Digitalisierung: Zwischen Geist und Ungeist

„The paradox of innovation is this: CEO's often complain about lack of innovation, while workers often say leaders are hostile to new ideas.“ – Patrick Dixon

 

„Digital ist besser.“ – Tocotronic

 

„Wenn dem technischen Fortschritt nicht Fortschritt in der moralischen Bildung des Menschen, im Wachstum des inneren Menschen entspricht, dann ist er kein Fortschritt, sondern eine Bedrohung für Mensch und Welt.“ – Papst Benedikt XVI

 

Ein Editorial von Michael Graef

In Deutschland geht ein Gespenst um: das „Gespenst der Digitalisierung“ [1]. So war es unlängst in der Westdeutschen Zeitung zu lesen. Sogar von einem „Schreckgespenst, das die Gesellschaft in Unruhe versetzt“, sprach jüngst in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt der CEO der pmOne AG, Peter Oberegger [2]. Nun vermag die Psychologie zwar die Herkunft des Glaubens an Gespenster als Form der Personifizierung des Todes überzeugend zu erklären, im marktwirtschaftlichen Kontext würde man demgegenüber eher von der vermeintlich allenthalben lauernden Disruption sprechen. Sie versetzt nicht nur betagten Geschäftsmodellen den Todesstoß, sondern auch Hunderttausenden oder Millionen von Arbeitsplätzen. Zumindest wenn es nach den „Job-Todeslisten“ geht, welche in Online-Medien immer beliebter werden, da sie sich gut als „Clickbaits“ eignen, welche die Verweildauer auf werbefinanzierten Websites erhöhen.

Ein widersprüchliches Bild

Zieht man die Etymologie zu Rate, eröffnet sich bei dem Wort „Gespenst“ noch ein anderer Aspekt, stammt es doch vom althochdeutschen Verb „spanan“, was soviel wie „anlocken“ bedeutet. Das verträgt sich gut mit dem widersprüchlichen Bild: hier die digitalen Vorreiter, die passend zum Trend der Selbstoptimierung begierig alles Aufsaugen, und dort die Zögerer und Zweifler.

Dementsprechend zeichnet die Initiative D21, Deutschlands größtes gemeinnütziges Netzwerk für die digitale Gesellschaft, aktuell folgendes Lagebild: Die Gesellschaft wird immer digitaler, Kompetenz und Offenheit steigen, ein Viertel der Bevölkerung partizipiert indes als „Digital Abseitsstehende“ nicht oder nur in sehr geringem Umfang an der digitalen Welt [3].

Im Grunde liegt diese Spreizung in der Natur der Sache, weil wir – um die Bundeskanzlerin zu bemühen – „von einer Transformation der Gesellschaft sprechen – einer digitalen Transformation.“ [4] Bleibt jedoch der Zweck der Anstrengungen tatsächlich das Gemeinwohl, so wie es einst Friedrich Alfred Krupp für das analoge Zeitalter formuliert hat? Doch dazu später mehr.

Digitale Frühstücksvorbereitungen

Josef Sanktjohanser, Präsident des Handelsverbands Deutschland (HDE) hat die Digitalisierung mit einem Tagesablauf verglichen und die These aufgestellt, wir seien bestenfalls beim Frühstücksei [5]. Viele Unternehmen legen scheinbar wenig Wert auf ein ausgiebiges Frühstück – darauf deutet jedenfalls die geringe Investitionsbereitschaft bei Digitalisierungsprojekten [6]. Und knapp 40 Prozent von ihnen haben gemäß einer neuen Studie offenbar noch überhaupt nicht mit den Frühstücksvorbereitungen begonnen [7].

Gleichzeitig wird bereits vielfach beklagt, die wachsende digitale Talentlücke behindere die Transformationsprozesse in den Unternehmen [8]. Nicht wenige Experten und Verbände gehen davon aus, dass Deutschland hierdurch seine Wettbewerbsfähigkeit massiv gefährdet, weshalb der Ruf nach einem „Digitalministerium“ immer lauter wird [9]. Brächte das aber nicht nur noch mehr Bürokratie? Und müsste die Digitalisierung nicht längst in allen Ressorts gelebt werden – insbesondere in Hinsicht auf so wichtige Aspekte wie IT-Sicherheit?

Digitale Orientierungslosigkeit

Wie das Produkt digitaler Orientierungslosigkeit wirkt unterdessen der jüngste Hackerangriff auf das Netzwerk der Bundesregierung, wobei die widersprüchliche Kommunikation darüber fast noch fragwürdiger ist. Dem Vernehmen nach verdanken wir die neuerliche Bestätigung, dass heutzutage nichts, was in Form von Nullen und Einsen aufbewahrt wird, mehr geheim ist, einem ausländischen Nachrichtendienst, der sich schon vor Monaten gemeldet haben soll [10].

Zyniker mögen argumentieren, dass das Ausmaß, welches das Outsourcen des Verfassens von Gesetzen an Lobbyisten und Anwaltskanzleien teilweise angenommen hat, das Regierungsnetzwerk sowieso zunehmend obsolet macht. Durch nichts zu ersetzen ist hingegen digitaler Sachverstand, der auch aus den eigenen Reihen kommen muss und sich nicht komplett auslagern lässt. Ein Grund mehr, die Idee eines gesonderten Digitalministeriums mit Skepsis zu betrachten.

Digitalisierung zwischen Funklöchern und Flugtaxis

Ebenfalls auf Skepsis stößt derweil die Installation des neuen Amtes einer „Staatsministerin im Kanzleramt für Digitales“, das mit der CSU-Politikerin Dorothee Bär besetzt wurde. Der Münchner Merkur verortet sie mit ihren Zukunftsvorstellungen irgendwo „zwischen Funklöchern und Flugtaxis“ [11] und der Spiegel merkt an, die Entscheidung sei „zuallererst das Ergebnis von Kompetenzgerangel in der Union, weniger von ernsthaftem politischen Willen, das Querschnittsthema endlich zu bündeln“ [12].

Angesichts der fehlenden personellen und finanziellen Ausstattung machen hohe Erwartungen kaum Sinn. Soll man es daher besser gleich ganz sein lassen? Analog zu dem provozierenden Vorschlag des Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes vielleicht, der für den Fall, dass die Politik nicht für einsatzbereite Streitkräfte sorgt, kürzlich vorgeschlagen hat, die Bundeswehr aufzulösen [13]. Nebenbei bemerkt eine enorme Zuspitzung, wenn man sich nur allein daran erinnert, wie das Offenlegen von Problemen bei der Leistungs- beziehungsweise Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr in den 70er-Jahren noch dazu führte, dass Journalisten wegen angeblichen Landesverrats strafrechtlich verfolgt wurden [14].

Totale Vernetzung und Freiheit

Womöglich muss man auch einfach nur mehr Geduld haben. Die Frage ist nur, wie lange die Welt auf Deutschland wartet. Die Probleme der Bundeswehr und die des verschlafenen digitalen Wandels sind übrigens eng miteinander verknüpft. Künftig muss unsere Freiheit nicht mehr nur an realen Orten verteidigt werden – also etwa am Hindukusch, wie es der damalige Verteidigungsminister Peter Struck 2002 behauptet hatte [15] –, sondern dank vollständiger Vernetzung bis in die hinterste smart-vernetzte Kaffeemaschine hinein.

Das aus der totalen Vernetzung resultierende unaufhaltsame Aggregieren, Verknüpfen und Bewerten von Daten könnte sich ohnehin noch böse rächen. Die geplante flächendeckende Einführung eines lückenlos peniblen Punktesystems zur Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Bürgern in China gibt einen Vorgeschmack [16].

Anlass zu ähnlich düsteren Vorahnungen gibt die Ankündigung der Gründung einer Krankenkasse durch Amazon in Kooperation mit JPMorgan Chase und Berkshire Hathaway [17]. Zunächst soll sie nur den eigenen Mitarbeitern angeboten werden, doch wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele – für Versicherungen verlockende – Informationen über das Verhalten, die Vorlieben, Schwächen und Wünsche der Menschen Amazon inzwischen gesammelt hat, kann man den nächsten Schritt erahnen.

Mit Peanuts abgespeist

Hier zeigt sich einmal mehr, was gleichermaßen für alle Erfindungen gilt: Der großartige Geist des Internets als aufklärerisches Medium, das den freien Zugang zum größten Wissensschatz aller Zeiten brachte, ist vom Ungeist, jedes noch so atomistische Detail unseres Lebens auszulesen und zu überwachen, nicht weit entfernt.

Womit wir quasi wieder am Ausgangspunkt angekommen wären, denn das aus dem Indogermanischen stammende Wort „Geist“ drückte ursprünglich Dinge wie Furcht und Aufgeregtheit aus. Angst ist freilich als Ratgeber immer nur die zweitbeste Wahl. Was aus der Digitalisierung folgt, haben wir zu einem großen Teil selbst in der Hand. Das fängt im Kleinen an. Wer zum Beispiel mittels Bonuskarte an der Supermarktkasse fragwürdigen Institutionen tiefe Einblicke in sein Privatleben gewährt, nur um mit Peanuts abgespeist zu werden, darf sich über eine heraufdämmernde Welt der totalen Überwachung nicht beklagen.

Wir müssen uns ändern

Noch etwas anderes dämmert herauf: Wir werden aller Voraussicht nach bald in einer Welt leben, die wir uns erstmals mit zehn Milliarden Artgenossen teilen müssen. Wenn das weiterhin einigermaßen zivilisiert ablaufen soll, muss sich unser Lebensstil schnell entscheidend wandeln. Gerade für die Überwindung des fossilen Zeitalters – und für die Abkehr von der Industrieproduktion als Müllproduktion – kann die Digitalisierung eines der wichtigsten Werkzeug werden, indem sie beispielsweise in unendlich vielen Bereichen zu höherer Effizienz führt oder im Verbund mit 3D-Druck Produktion und Logistik revolutioniert.

Wenn diese Wende gelingen soll, müssen wir allerdings nicht nur die Art wie wir konsumieren ändern, sondern uns selbst. Und das sogar laufend. Beachtenswert in dem Zusammenhang ist eine Studie von McKinsey, welche einen Ausblick auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf Berufe, Qualifikationen und Beschäftigung in verschiedenen Szenarien bis zum Jahr 2030 liefert [18].

Chance auf Partizipation

Man sollte keine allzu hohe Wette darauf abschließen, dass der Menschheit die Arbeit vorzeitig ausgeht. Stattdessen gibt es gute Gründe für eine optimistische Sichtweise. Insgesamt gesehen wuchs der Wohlstand bislang mit jeder technologischen Revolution. Roboter und künstliche Intelligenz werden diese Tradition fortschreiben. Bleibt die Frage, wie möglichst alle Menschen davon profitieren respektive die Chance erhalten, sich für all die zukünftigen Jobs neu zu qualifizieren, deren Namen noch gar nicht erfunden worden sind. Hier ist die Politik gefragt, die noch immer viel zu wenig den Geist des digitalen Zeitalters verinnerlicht hat. Das kleingeistige Verwalten einer Welt, die im Begriff ist zu verschwinden, muss zugunsten einer Vision von einer lebenswerten Welt von morgen überwunden werden.

Michael Graef, Chefredakteur

09.03.2018

Hinweis:

Dieser Artikel ist ursprünglich erschienen im Wissenschaftsjournal TM 2.0. Die TM 2.0 war die digitale Fortsetzung der 100 Jahre lang in gedruckter Form erschienenen Technischen Mitteilungen (TM), die bereits im Jahre 1907 in Dortmund durch drei Berufsverbände (Rhein.- Westf. Bezirksverein Deutscher Chemiker, Elektrotechn. Verein des Rhein.-Westf. Industrie-Bezirks und Westfälischer Bezirks-Verein Deutscher Ingenieure) gegründet wurden. Aufgegangen ist die TM 2.0 im HDT-Journal.

Quellen:

[1] http://www.wz.de/home/multimedia/vom-gespenst-der-digitalisierung-1.2585631

[2] http://www.handelsblatt.com/my/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-zum-digitalen-wandel-deutschland-muss-seine-ressourcen-nutzen-seine-koepfe/20918582.html?ticket=ST-3363408-VOMP2XSYuhvLOgxJC2Lb-ap2

[3] https://tm20.de/initiative-d21-gesellschaft-trotz-spaltung-immer-digitaler/

[4] Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim
Digital-Gipfel 2017 in Ludwigshafen am
13. Juni 2017 https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/06/2017-06-13-rede-merkel-digital-gipfel-2017.html

[5] https://www.noz.de/deutschland-welt/wirtschaft/artikel/1029263/e-commerce-gleiche-rahmenbedingungen-in-gefahr

[6] https://tm20.de/zurueckhaltung-bei-investitionen-in-digitalisierungsprojekte/

[7] https://thegroupofanalysts.com/2018/02/26/die-welt-im-digitalen-wandel-ohne-deutschland/

[8] https://tm20.de/studie-digitale-talentluecke-waechst/

[9] https://digitalministerium.org

[10] https://www.golem.de/news/bundeshack-auslaendischer-geheimdienst-soll-regierung-gewarnt-haben-1803-133112.html

[11] https://www.merkur.de/politik/dorothee-baer-zwischen-funkloch-und-flugtaxi-9671850.html

[12] http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/dorothee-baer-die-staatsministerin-fuer-digitalisierung-braucht-beinfreiheit-a-1196737.html

[13] https://www.welt.de/politik/deutschland/article173629229/Bundeswehr-Verband-Dann-schlage-ich-die-Aufloesung-der-Bundeswehr-vor.html

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegel-Affäre

[15] https://www.heise.de/tp/features/Die-Sicherheit-Deutschlands-wird-auch-am-Hindukusch-verteidigt-3427679.html

[16] https://www.heise.de/newsticker/meldung/China-schafft-digitales-Punktesystem-fuer-den-besseren-Menschen-3983746.html

[17] https://www.welt.de/wirtschaft/article173229888/Amazons-Krankenversicherung-fuehrt-in-den-Ueberwachungsstaat.html

[18] https://www.mckinsey.com/global-themes/future-of-organizations-and-work/what-the-future-of-work-will-mean-for-jobs-skills-and-wages

 

Bildhinweis:
Thema Digitalisierung – zwischen Geist und Ungeist; Symbolbild (Quelle: Pixabay.com / Composing: TM 2.0)

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