KI bewegt mittlerweile Aktienmärkte und beschäftigt nicht nur die Wirtschaftspresse. Jeder spürt: es bahnen sich Veränderungen von historischer Tragweite an. Wie künstliche Intelligenz funktioniert, weiß indes fast niemand. Eine nicht hinnehmbare Situation für ein Land, dessen wichtigster Rohstoff in den Köpfen seiner Menschen liegt, wie es heutzutage allenthalben mantraartig heißt. Um eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts in ihren Grundzügen zu begreifen, aber auch als Basis für die intensivere Auseinandersetzung, bietet sich Künstliche Intelligenz für Dummies an – eine Veröffentlichung aus dem Verlag Wiley-VCH.
1963 unternahm der spätere britische Premierminister Harold Wilson einen berühmt gewordenen Versuch, seine Landsleute auf das Computerzeitalter vorzubereiten. Maschinen, so war Wilson überzeugt, würden bald nicht mehr nur der menschlichen Muskelkraft, sondern auch dem Denkvermögen Konkurrenz machen. Bis heute beeindruckt seine „White Heat Speech“, da Wilson auf eine für das politische Personal nicht eben selbstverständliche Weise in der Lage war, die bahnbrechenden Fortschritte seiner Zeit im Zusammenhang mit ihrer volkswirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und sozialen Dimension zu begreifen.
Dringendes Desiderat: Grundwissen zu KI
An dieser eigentlichen Notwendigkeit hat sich 60 Jahre danach nichts geändert. Bloß weiß, während wir mit dem beginnenden Masseneinsatz von künstlicher Intelligenz (KI) die Anfänge einer der größten technologischen Revolutionen der Menschheitsgeschichte beobachten, nahezu niemand, wie diese Black Box funktioniert. Eine aus mindestens zwei Gründen inakzeptable Situation.
Zum einen widerspricht es der hoffentlich noch von einer Mehrheit geteilten Überzeugung, dass es mündige Bürgerinnen und Bürger braucht, die auf der Grundlage von Wissen und Kompetenzen Verantwortung für ihr eigenes Schicksal und zugleich gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können. Zum anderen zeigt bereits der bisherige Fachkräftemangel sowie das internationale digitale Abgehängtsein Deutschlands, welche teuren Folgen für unseren Wirtschaftsstandort Defizite bei Qualifikationen und Kompetenzen haben.
Die bislang grandios gescheiterten Versuche, an unseren Schulen wirklich relevantes digitales Know-how zu vermitteln, muss man hier nicht mehr besonders herausstellen. Die Missstände sind fast sprichwörtlich und Teil eines seit rund zwei Dekaden andauernden Stillstandes, der alle Bereiche unseres Landes erfasst hat.
Eine paradoxe Situation
Dass ein einzelnes Buch gegen diese geballte Ladung an Problemen wenig ausrichten kann, braucht wohl nicht betont zu werden. Dennoch ist eine in sich abgeschlossene, allgemein verständliche Einführung, wie sie Ralf Otte, Professor am Institut für Automatisierungssysteme an der Technischen Hochschule Ulm, mit seinem Buch „Künstliche Intelligenz für Dummies“ liefert, Gold wert. Wir haben es nämlich mit der paradoxen Situation zu tun, dass mit dem Internet der denkbar größte Wissensschatz überwiegend frei zugänglich zur Verfügung steht, es mit der selbstständigen Wissensaneignung in großem Maßstab jedoch einfach nicht klappen will.
Hier kann Ralf Otte helfen. Er befasst sich seit den 1990er-Jahren mit den Möglichkeiten der KI und bietet eine Art „Guided Tour“, die auch für Menschen geeignet ist, die kein MINT-Fach studiert haben. Zwar ist ein tiefgreifendes Verständnis von KI ohne – zumindest kursorische – mathematische Betrachtungen an sich kaum denkbar. Ottes Buch lagert aber diejenigen Bestandteile, die für manche wie eine Terra incognita anmuten, in spezielle „Mathe-Boxen“ für Fachleute und Studierende aus. Alle anderen dürfen diese durchaus überspringen, ohne dass der angestrebte Erkenntnisgewinn darunter spürbar leidet.
Intelligenz verstehen, heißt Welt verstehen
Wer künstliche Intelligenz verstehen will, muss zuvor einige andere Dinge begriffen haben. Daher widmet sich Ralf Otte im ersten Kapitel von Künstliche Intelligenz für Dummies zunächst der Frage, was Intelligenz überhaupt ist. Auch geht es zwingend um die Frage, was Wahrheit ist. Nur wenn man weiß, dass es die eine richtige Antwort (genau wie die leider von zu vielen Menschen behauptete absolute Wahrheit) nicht gibt, kann man nachvollziehen, wie Maschinen die Welt verstehen beziehungsweise interpretieren – und was sie Wissen können. Wobei es hier zunächst der Klärung bedarf, was Wissen im Verhältnis zu Informationen und Daten ist. Davon handelt ein eigenes Kapitel.
Hat man außerdem das wichtige Kapitel zur Logik hinter sich gelassen, wird der Weg frei für die Beschäftigung mit den Prinzipien des maschinellen Lernens – bis hin zu Deep Learning auf der Basis von künstlichen neuronalen Netzen. Otte zeigt an anderer Stelle in seinem Buch die Meilensteine der bisherigen Entwicklung intelligenter Maschinen von den fundamentalen Beiträgen Kurt Gödels zur Prädikatenlogik und der von Alan Turing eingeführten Turingmaschine über den IBM-Schachcomputer Deep Blue bis hin zu ChatGPT von OpenAI, dem Hype-Thema der letzten Monate.
Aus dem Labor in den Alltag … und dann?
Grau ist alle Theorie. Daher werden viele Menschen die praktischen Kapitel von Künstliche Intelligenz für Dummies zu schätzen wissen, in denen Ralf Otte praktische Anwendungsfälle wie Gesichts- und Spracherkennung, Sprachübersetzung sowie selbstfahrende Autos diskutiert. Daneben wagt er einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Unweigerlich berührt das ethische Fragen, denen sich der Autor ebenso stellt.
Ausgehend von einem Streifzug in die Welt des menschlichen Bewusstseins beantwortet Ralf Otte darüber hinaus die Frage, ob eines Tages mit einem künstlichen Bewusstsein zu rechnen ist. Anstatt zu verraten, wie Otte hierzu steht (und ob man sich deswegen Sorgen machen muss), sei hier an einen wichtigen Hinweis erinnert, den uns einst Konrad Zuse gab. Der häufig als Vater des Computers bezeichnete deutsche Erfinder und Unternehmer schätzte die Gefährlichkeit von Menschen, die wie Computer agieren, größer ein als die von Computern, die menschlich werden.
Fazit: Epochale Chancen, die es zu erkennen gilt
Künstliche Intelligenz wird unsere Zukunft so stark prägen wie der Klimawandel und die sich abzeichnenden geopolitischen Herausforderungen. Doch nur wer die grundlegende Funktionsweise von KI verstanden hat, kann die epochalen Chancen erkennen und Risiken realistisch bewerten – jenseits von den reflexartig geschürten Zukunftsängsten, die längst in aller Welt als „German Angst“ berüchtigt sind.
Bücher wie Künstliche Intelligenz für Dummies von Ralf Otte können in dem Zusammenhang sehr viel bewirken – wenn sie gelesen werden, was wir ausdrücklich empfehlen. Und zwar allen, die sich mit dem folgenden bekannten Ausspruch Albert Einsteins, den wohl die meisten als Beispiel für maximale „natürliche Intelligenz“ anführen würden, identifizieren können: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“
Ralf Otte
Künstliche Intelligenz für Dummies
2. Auflage (Mai 2023)
512 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-527-72099-6
Weitere Informationen:
Wiley-VCH GmbH
www.wiley-vch.de
Autor: Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal, 28.06.2023