1802 präsentierte der französische Bergwerksingenieur Albert Mathieu den ersten realistischen Plan zum Bau einer Tunnelverbindung zwischen seinem Heimatland und Großbritannien. Mindestens ein halbes Jahrhundert älter sind früheste Überlegungen, den Ärmelkanal zu unterqueren. Manchmal dauert es etwas länger, bis aus einer Vision Wirklichkeit wird. Doch was sind schon die zwei oder drei Jahrhunderte bis zur Fertigstellung des Eurotunnels gemessen an den 13.000 Jahren, die seit der letzten – eiszeitlichen – Gelegenheit vergangen sind, die heutige Meerenge ohne ein Flugzeug oder Boot trockenen Fußes zu überqueren …
Als der Eurotunnel am 06. Mai 1994 feierlich durch Königin Elisabeth II. und François Mitterrand eröffnet wird, ist Margaret Thatcher seit dreieinhalb Jahren nicht mehr im Amt. Als britische Premierministerin hatte sie sich dafür eingesetzt, den Bau – die Kosten betrugen insgesamt 15 Milliarden Euro – rein privatwirtschaftlich zu finanzieren. Einige der wichtigsten Meilensteine sind: erste vorbereitende Bohrungen auf britischer Seite am 15. Dezember 1987, Beginn der Bauarbeiten in Frankreich am 28. September 1988, Tunneldurchstich am 01. Dezember 1990, Fertigstellung am 20. Juni 1993 sowie reguläre Inbetriebnahme für Reisezüge am 14. November 1994.
Ende der Splendid Isolation
Der Streckenanteil von 37 Kilometern unter der Straße von Dover macht den Eurotunnel zum längsten Unterwassertunnel der Welt. Er ist jedoch weitaus mehr als nur eine bewundernswerte Ingenieurleistung. Dementsprechend können die reinen Fakten nicht vermitteln, was seine Realisierung – und somit das Ende der „Splendid Isolation“ – für das Selbstverständnis der Briten bedeutete. Nach dem historischen Shakehands und Flaggentausch unter dem Ärmelkanal zwischen dem ausgelosten Franzosen Philippe Cozette und dem Briten Graham Fagg kommentieren französische Medien treffend: „England hat aufgehört, eine Insel zu sein!“.
Inzwischen aber sind aufgrund des Brexit die wenige Jahre währenden Gefühlen von grenzenloser Freiheit und paneuropäischer Verbundenheit einer ambivalenten Wahrnehmung gewichen. Jahrhundertealte Ängste, die (abgesehen von fehlenden finanziellen Mitteln und technischen Möglichkeiten) einen früheren Tunnelbau verhinderten, greifen neuerdings wieder Platz. Bloß mit veränderten Vorzeichen. Bestand in der Vergangenheit die Sorge vor einer militärischen Invasion Großbritanniens, der Tunnel-Befürworter Winston Churchill übrigens bereits in den 1920er-Jahren vehement widersprach, wächst heutzutage die Furcht vor unkontrollierbaren Flüchtlingsströmen, egal wie irrational sie sein mag.
Licht am Ende des Tunnels?
Man könnte sagen, dass sich auch dank des Eurotunnels mit dem Brexit nicht alle Brücken zwischen Großbritannien und Frankreich respektive Europa – genauer: der EU – abbrechen ließen. Demgemäß kann man den Eurotunnel (wenn auch nur im entfernten Sinne) als Ausfluss der Idee einer französisch-britischen Union begreifen, wie sie Winston Churchill 1940 – während des düstersten Kapitels der europäischen Geschichte – vorschwebte. Charles de Gaulle war ihr seinerzeit ebenfalls sehr zugeneigt.
Wenn es stimmt, dass jede Generation erst mühsam neu lernen muss, wie wertvoll alles Verbindende ist, und dass Zusammenhalt nicht schwächt, sondern stärker macht – wozu ein verbessertes Geschichtsbewusstsein ungemein beitragen kann –, darf man vielleicht bald auf ein wenig Licht am Ende des Tunnels hoffen.
Autor: Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal, 06.05.2024
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Unser Titelbild entstand unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz.