Zu behaupten, dass der Mensch mithilfe der Technik lediglich Probleme lösen würde, die er ohne sie nicht hätte – dass der Fortschritt somit ein Nullsummenspiel sei –, wäre eine Fehlinterpretation sondergleichen. Einem verbreiteten Technik-Skeptizismus (genau wie naivem Utopismus) jedoch begegnet man am besten mit der Vermittlung von Wissen um die tatsächlichen Zusammenhänge. Dazu gehört dann freilich das Herausstreichen all jener Herausforderungen, vor denen die Menschheit gegenwärtig steht – in der von ihr maßgeblich geprägten, zunehmend als „Anthropozän“ bezeichneten Epoche.
Eine Schlüsselrolle kommt hierbei der Technikgeschichte zu, deren Einführung als wissenschaftliche Disziplin und Studienfach auf den deutschen Ingenieur Conrad Matschoß zurückgeht. Dem HDT als dem Herausgeber unseres Mediums ist er – nebenbei bemerkt – auch deshalb in guter Erinnerung geblieben, weil er sich in die illustre Reihe großer Persönlichkeiten einreiht, die in Deutschlands ältestem technischen Weiterbildungsinstitut als Keynote-Speaker, wie man es heutzutage nennt, vorgetragen haben.
Eine Analyse von 500 Jahren Technikgeschichte
Was gibt es acht Jahrzehnte nach dem Tod von Conrad Matschoß über die Technikgeschichte zu berichten? Welche Forschungsschwerpunkte spielen heute eine Rolle und was für divergierende Konzepte des Technikbegriffs und Kontroversen um Methoden der Technikhistoriographie sind beobachtbar? In vorzüglich umfangreicher und präzise strukturierter Weise beantwortet diese Fragen eine neue Veröffentlichung aus dem Narr Francke Attempto Verlag mit dem Titel „Moderne Technikgeschichte“.
Verfasst wurde das knapp 500 Seiten starke Lehrbuch durch den Technikhistoriker Prof. Dr. Rolf-Jürgen Gleitsmann, der bis 2020 Technikgeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) lehrte, den Neuzeithistoriker am KIT Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze sowie Dr. Günther Oetzel, der bis 2014 dem KIT-Institut für Geschichte angehört hat. Die Autoren stellen die Technikgeschichte als wissenschaftliche Disziplin vor und analysieren die Entwicklung ihres Gegenstandes über einen Zeitraum von einem halben Jahrtausend. Neben dem historischen Abriss liefern sie unter anderem Definitionen, Gegenstand, Methode und Theorien des technischen Wandels. Zudem beleuchten sie die Potenziale der modernen Technikgeschichte.
Die Autoren präsentieren darüber hinaus technikgeschichtliche Interpretationsansätze zu den gesellschaftlichen Diskursen über Technikzukünfte und gehen auf Museen als soziale Lernorte und Orte der Auseinandersetzung um die Deutung der sozio-technischen Vergangenheit ein.
Das richtige Buch zur richtigen Zeit
Im Hinblick auf die viel zitierten Zeitenwende und angesichts der sich verschärfenden Dringlichkeit der Suche nach einem Weg in eine von ökonomischer, politischer und ökologischer Nachhaltigkeit geprägten Zukunft ist „Moderne Technikgeschichte“ das richtige Buch zur richtigen Zeit. Es zeigt nicht zuletzt die nutzbringende Rolle der Technikgeschichte bei der historischen Fundierung aktueller gesellschaftlicher Debatten auf.
„Der Mensch wird durch Technik erst zum Menschen“, zitieren die Autoren von „Moderne Technikgeschichte“ den Historiker Karl H. Metz. Zum kritik- und diskursfähigen Wesen aber wird er vor allen Dingen durch Faktenkenntnis. Wozu es der neutralen, uneigennützigen Wissensvermittlung bedarf (als einer Aufgabe, der beispielsweise wir gemäß der uns selbst auferlegten Verpflichtung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nachgehen) – oder Bücher wie das vorliegende, das von uns eine klare Empfehlung erhält.
Rolf-Jürgen Gleitsmann, Rolf-Ulrich Kunze, Günther Oetzel
Moderne Technikgeschichte
Narr Francke Attempto Verlag
Softcover, 486 Seiten
1. Auflage (Dezember 2022)
ISBN 9783825258931
https://www.narr.de/moderne-technikgeschichte-45893/
Autor: Michael Graef, 08.02.2023