Erstes Ziel bei der Fahrzeugsicherheit muss immer die Unfallvermeidung sein. Doch leider lässt sich nicht jeder Crash verhindern. Das dürfte sich auch nach der Verwirklichung echten autonomen Fahrens nicht ändern. Tendenziell wird das Autofahren aber immer sicherer. Das gilt für elektrisch angetriebene Fahrzeuge ganz genauso. In der Forschung und den Entwicklungsabteilungen der Fahrzeughersteller wird dafür auch eine Menge getan.
Über die Hintergründe der Crashsicherheit von Elektrofahrzeugen sprach das HDT-Journal mit Dipl.-Ing. Rainer Justen von der Mercedes-Benz AG. Justen leitet beim HDT das Seminar „Crashanforderungen und Sicherheitskonzepte für Elektrofahrzeuge“ und verfügt über mehr als 30 Jahre Berufserfahrung auf dem Gebiet der Unfallsicherheit von Pkw. Seit 2008 ist er unter anderem verantwortlich für die Sicherheit von Fahrzeugen mit alternativen Antrieben, 2015 wurde er für seine Arbeit zur Sicherheit von Lithium-Ionen Batterien in Elektrofahrzeugen mit dem SAE Automotive Safety Award der US-amerikanischen Society of Automotive Engineers ausgezeichnet.
HDT-Journal: Herr Justen, wie unterscheiden sich die Sicherheitskonzepte für Elektrofahrzeuge von jenen für herkömmliche Verbrenner?
Rainer Justen: Die grundsätzliche Zielsetzung einer Unfallvermeidung – und im Falle eines Unfalls einer schnellst- und bestmöglichen Insassenversorgung – ist natürlich dieselbe wie bei konventionellen Fahrzeugen. Insofern kommen hier die bekannten Unfallvermeidungs- und Notrufsysteme nach dem jeweils aktuellen Stand der Technik zum Einsatz. Bei Elektrofahrzeugen entstehen bei all diesen Zielen aber durch einen elektrischen Antriebsstrang geänderte Randbedingungen mit neu zu bewältigenden Herausforderungen.
HDT-Journal: Was bedeutet das für die Karosseriestrukturen von E-Autos?
Rainer Justen: Moderne Elektrofahrzeuge verfügen über neue, angepasste Karosseriestrukturen, zum Beispiel einen flachen Boden, ein anderes Package durch kleinere Motoren, größere Batterien und ein neues Antriebssystem mit Hochvoltspannungen bis 800 V. All dies stellt neue Herausforderungen an die Aufprallkinematik mit der Adaption des Insassenrückhaltesystems – sowie an die Stromschlagsicherheit für Insassen und Rettungskräfte.
HDT-Journal: Welche spezifischen Sicherheitsvorkehrungen und Notfallsysteme sind erforderlich, um potenzielle Risiken im Zusammenhang mit Hochvoltbatterien zu minimieren?
Rainer Justen: Bei einem Unfall besteht das wesentliche Schutzkonzept in der Abschaltung und Entladung des Hochvoltsystems im Fahrzeug. Es muss aber auch berücksichtigt werden, dass eine Abschaltung erst ab einer bestimmten Unfallschwere erfolgt und die Spannung in der Batterie immer erhalten bleibt und diese am Unfallort nicht entladen werden kann.
HDT-Journal: Welche Rolle spielt die Platzierung der Batterien für die Sicherheit von Elektrofahrzeugen?
Rainer Justen: Die Batterien werden bei Hybridfahrzeugen oft im Laderaum und bei Elektrofahrzeugen im Fahrzeugunterboden platziert. Die dadurch geänderte Schwerpunktlage kann sich auf die Fahrdynamik auswirken. Im Hinblick auf einen Unfall muss berücksichtigt werden, dass es zu aufprallbedingten Beschädigungen der Batterien kommen kann.
HDT-Journal: Gibt es bezüglich der Crashsicherheit bei den eingesetzten Materialien und dem strukturellen Aufbau Besonderheiten bei Elektrofahrzeugen?
Rainer Justen: Bei den Technologien und Materialien wird grundsätzlich auf bewährte Konzepte zurückgegriffen. Je nach Fahrzeugkonzept ist aber eine individuelle Auslegung bezüglich Deformationszonen und -möglichkeiten zu berücksichtigen.
HDT-Journal: Bringt der von Verbrennern abweichende Aufbau vielleicht sogar Vorteile für die Insassenbelastung im Falle eines Unfalls mit sich?
Rainer Justen: Für den Insassenschutz bieten Elektrofahrzeuge tatsächlich grundsätzliche Vorteile, wie zum Beispiel viele Verbraucherschutztests zeigen, bei denen Elektrofahrzeuge mit den niedrigsten Insassenbelastungen glänzen. Beim Frontalaufprall können durch die kleineren Elektromotoren gegenüber Verbrennungsmotoren zum Teil deutlich günstigere Deformationsmöglichkeiten und Fahrzeugverzögerungen für den Insassenschutz erreicht werden.
HDT-Journal: Wie sieht es aus mit den Anforderungen der verschiedenen internationalen Crashtest-Standards? Gibt es hier Besonderheiten bei Elektrofahrzeugen – und wenn ja, wie werden sie erfüllt?
Rainer Justen: An Fahrzeuge mit elektrischem Antriebsstrang werden zusätzliche Anforderungen gestellt, die die Batteriesicherheit und den Schutz vor Stromschlägen adressieren. Hier geht es konkret um die Verankerung von Batterien, das Auslaufen von Elektrolyten sowie um Spannungsfreiheit, Berührschutz und Isolationswiderstand von Hochvolt-Systemen. In der jüngeren Vergangenheit sind hierzu in allen relevanten Märkten wie zum Beispiel ECE, USA und China neue beziehungsweise aktualisierte Vorschriften erlassen worden, die in ihrer Zielsetzung sehr ähnlich sind, im Detail aber auch Abweichungen voneinander enthalten.
HDT-Journal: Welche Konsequenzen hat das für die Entwicklung von Crash-Sicherheitskonzepten für Elektrofahrzeuge?
Rainer Justen: Die gesetzlichen Anforderungen an die Batteriesicherheit im Crashversuch stellen keine allzu große Hürde dar. Die Batteriesicherheit ist aber sehr stark geprägt durch eine öffentliche Wahrnehmung in den Medien. In den Anfangsjahren der Elektromobilität wurde über nahezu jeden Brand eines Elektrofahrzeugs sehr breit berichtet, was zu einer starken Verunsicherung bei Kunden und vor allem den Rettungskräften geführt hat. Als Folge nahm dieses Thema dann auch bei der Fahrzeugentwicklung eine sehr hohe Aufmerksamkeit und Bedeutung ein.
HDT-Journal: Mit was für Konsequenzen? Oder anders gefragt: Mit welchen Maßnahmen wird die Brandsicherheit von Elektrofahrzeugen gewährleistet, insbesondere im Zusammenhang mit Lithium-Ionen-Batterien?
Rainer Justen: Eine bestmögliche Integration der Batterien im Fahrzeug mit Schutz vor einer mechanischen Beaufschlagung sowie einer Robustheit der Batterie selbst, wenn es doch mal zu einer mechanischen Beschädigung kommt, sind hier als wesentliche Konzepte zu nennen. Mit der steigenden Population von Elektrofahrzeugen in den vergangenen Jahren sind auch keine besonderen Auffälligkeiten von unfallbedingten Batteriebränden mehr zu verzeichnen.
HDT-Journal: Was sind Ihre Erwartungen hinsichtlich der künftigen Weiterentwicklung der Crashsicherheit von Elektrofahrzeugen?
Rainer Justen: Hier sind insbesondere bei den Batterien für die Zukunft neue Lösungen zu erwarten. Aktuelle Li-Ionen-Batterien sind aufgrund der chemischen Zusammensetzung grundsätzlich brennbar und müssen entsprechend geschützt werden. Zukünftige Batterietechnologien wie zum Beispiel Feststoff-Batterien versprechen unter anderem deutlich bessere Sicherheitseigenschaften. Damit wären dann auch andere Integrations- und Crashlösungen möglich.
HDT-Journal: Wie können OEM und Zulieferer von Elektrofahrzeugen dazu beitragen, dass Crash-Sicherheitskonzepte in der gesamten Lieferkette eingehalten werden?
Rainer Justen: Bei Hochvolt-Komponenten wäre gegebenenfalls die frühzeitige Berücksichtigung von individuellen Berührschutzanforderungen, die sich aus dem jeweiligen Fahrzeugkonzept und der Einbausituation im Fahrzeug ergeben, im Grundkonzept und der Materialauswahl des Bauteils gleich mit zu berücksichtigen.
HDT-Journal: Wird die fortschreitende Automatisierung – bis hin zum echten autonomen Fahren – ebenfalls Auswirkungen auf die Crashanforderungen und Sicherheitskonzepte für Elektrofahrzeuge haben?
Rainer Justen: Autonomes Fahren und Elektromobilität stehen in engem Zusammenhang und befähigen sich gegenseitig. Langfristig ist vom autonomen Fahren ein hohes Potenzial zur Unfallvermeidung zu erwarten, was dann auch sicher Einfluss auf die Ausstattung und Ausgestaltung von Insassenschutzsystemen haben kann. Dies ist aber noch ein sehr weiter Blick in die Zukunft. Auf dem Weg dorthin müssen mittelfristig sich ändernde Unfallszenarien im Auge behalten werden.
HDT-Journal: Kommen wir noch einmal auf die bereits erwähnten Rettungskräfte zu sprechen. Wie werden diese auf die spezifischen Sicherheitsanforderungen von Elektrofahrzeugen am besten vorbereitet, damit sie im Falle eines Unfalls angemessen reagieren können?
Rainer Justen: Dieses Thema hat – ausgelöst durch eine medienwirksame Berichterstattung von Brandfällen bei Elektrofahrzeugen vor einigen Jahren – für sehr viel Verunsicherung bei Rettungskräften gesorgt. Hierzu wurde durch eine vielschichtige Aufklärungsarbeit, zum Beispiel durch Vorträge, Seminare, Konferenzbeiträge und Q&A-Broschüren umfangreich informiert. Da nach Unfällen mit Elektrofahrzeugen zwar grundsätzlich keine größere Gefahr für Rettungskräfte als bei konventionellen Fahrzeugen besteht, aber einige Besonderheiten beachtet werden müssen, wird der Dialog mit den Rettungskräften ein fester Bestandteil bleiben.
HDT-Journal: Herr Justen, wir danken Ihnen für die interessanten Erläuterungen.
Die Fragen stellte Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal
Hinweis: Wer noch mehr über das Thema erfahren möchte, dem empfehlen wir das von Rainer Justen geleitete HDT-Seminar „Crashanforderungen und Sicherheitskonzepte für Elektrofahrzeuge“.