Über einen Mangel an Abwechslung kann man sich in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Automobilindustrie gegenwärtig nicht beklagen. Mit der zeitgleich stattfindenden Transformation der Antriebstechnologien und der schrittweisen Automatisierung des Fahrens hin zu einem voll autonomen Betrieb sind Deutschlands Autobauer herausgefordert wie lange nicht. Um den Platz in der Weltspitze zu verteidigen, dürfen sie den technologischen Wandel selbstverständlich nicht aussitzen. Apropos: Dieser erfasst sogar die Fahrzeugsitze, an die man im Gegensatz zu vielen anderen Fahrzeugkomponenten nicht unbedingt als Erstes denkt. Tatsächlich wird sich auch ihre Rolle spürbar ändern.
Welche Rolle werden Fahrzeugsitze im automobilen Insassen-Cocoon der Zukunft spielen?
Sobald Fahrzeuge mehrheitlich den sogenannten SAE Level 5 erreichen, so dass die Notwendigkeit des Starrens auf Asphalt und fremde Stoßstangen entfällt, bekommen Autofahrten einen ganz neuen Charakter. Was dazu führt, dass man Fahrzeuginterieurs bald nicht mehr wiedererkennen wird. Sie könnten anstelle des Exterieurs zum eigentlichen Differenzierungsmerkmal und Verkaufsargument werden. In gewisser Weise wird man bei den Autos der Zukunft bereits durch das Einsteigen ans Ziel kommen – was Erinnerungen weckt, an den als „Transrapid-Rede“ berühmt gewordenen Versuch eines früheren bayerischen Ministerpräsidenten, die Vorzüge einer schnellen Anbindung Münchens an seinen Flughafen zu erklären.
Spätestens wenn „Insassen-Cocoons“ massenhaft wahlweise als „Homeoffices on Tour“, rollende Lounges, private Schlafwagen oder – vis-à-vis sitzend – als mobile Besprechungsräume genutzt werden, dürfte zudem der Begriff „Leben auf der Überholspur“ eine gänzlich neue Bedeutung erhalten. Dass sich die heutigen, primär für das stumpfsinnige Abspulen von Kilometern konzipierten Fahrzeugsitze für all das nur sehr begrenzt eignen, liegt natürlich auf der Hand.
Komfort, Variabilität, Sicherheit und luxuriöse Zusatzfunktionen
Auf die Entwickler künftiger Fahrzeugsitze kommt also ein umfangreiches Pflichtenheft zu, dessen Punkte allerdings keineswegs alle neu sind. Im Gegenteil gibt es beispielsweise längst Sitze, die sich drehen lassen, um den uneingeschränkten Dialog mit den Mitreisenden zu ermöglichen. Gleichermaßen bleiben bei den luxuriösen Zusatzfunktionen heute schon kaum mehr Wünsche offen. Man denke an Belüftung, Klimatisierung oder Massagefunktion.
Die Sicherheit bleibt freilich ebenfalls Thema, selbst wenn davon auszugehen ist, dass autonome Fahrzeuge das Unfallrisiko deutlich senken werden. Außerdem weiterhin wichtig im Hinblick auf die Reichweite: die Leichtbauweise. Je nach Fahrzeuggröße und Einsatzbereich ist aber noch viel mehr denk- und umsetzbar. Ein rollender Massagesalon etwa ließe sich ebenso verwirklichen wie ein Kinosaal. Akzeptanz und Geldbeutel werden die Grenze des Machbaren definieren, technische Hürden hingegen eher weniger.
Autor: Michael Graef, 28.06.2021