Zwischen Material- und Informationsfluss: Intralogistik-Interview mit Prof. Dr. Inga Pollmeier

Reißen die Lieferketten, sind wir geliefert. Auf diese einfache Formel lässt sich unsere extreme Abhängigkeit von Rohstoffen, Vorprodukten und fertigen Erzeugnissen bringen, der sich eine breite Öffentlichkeit erst durch die Folgen der Pandemie bewusst geworden ist. In geringerem Umfang existiert das Phänomen allerdings bereits seit Beginn der Sesshaftigkeit des Menschen (man denke allein an die Versorgung mit Gütern wie dem lebenswichtigen Speisesalz). Ihm steht die Herausforderung gegenüber, Materialflüsse innerhalb von Produktionsstätten so zu orchestrieren, dass bestmöglich – schnell, sicher und wirtschaftlich – gearbeitet werden kann.

Die gezielte, auch mithilfe von wissenschaftlichen Methoden gestützte Optimierung innerbetrieblicher Abläufe im Sinne der Intralogistik setzte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Acht Jahrzehnte später erleben wir eine noch weitaus wirkmächtigere digitale Revolution. Zunehmend verschiebt sich der Fokus von den reinen Materialflüssen hin zu den Informationsflüssen.

Die neuen Methoden eröffnen Chancen der effizienteren Organisation, Abwicklung und Kontrolle von Prozessen, stellen jedoch zugleich hohe Ansprüche im Hinblick auf die Implementierung. Über die Zäsur sprachen wir mit Prof. Dr. Inga Pollmeier, Professorin für Produktionsmanagement und Logistik an der Hochschule Ruhr West. Frau Prof. Pollmeier verfügt unter anderem über vielfältige Führungserfahrungen aus ihrer Tätigkeit für den DB-Konzern und ist überdies Autorin eines sehr beachtenswerten Logistik-Fachbuchs, erschienen bei Kohlhammer.

HDT-Journal: Frau Prof. Pollmeier, die Optimierung innerbetrieblicher Materialflüsse ist für die gesamtwirtschaftliche Prosperität offenbar ähnlich entscheidend wie ein reibungsloses Funktionieren globaler Lieferketten. Nur mit dem Unterschied, dass bei Ersterem jedes einzelne Unternehmen gefordert ist.

Lassen Sie uns über die Möglichkeiten reden, die sich aus Technologien wie der digitalen Materialflussanalyse und Echtzeit-Datenverarbeitung, aus digitalen Zwillingen und KI-gestützten Systemen erwachsen. Wie lassen sich diese nutzen, um Prozesse transparenter und effizienter zu gestalten, und welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten derzeitigen Entwicklungen?

Inga Pollmeier: Die digitale Transformation der Logistik eröffnet den Unternehmen viele Möglichkeiten, die Effizienz ihrer Prozesse zu verbessern und ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Kosteneinsparungen zu steigern. Dabei können Materialbewegungen mithilfe von Sensoren und IoT in Echtzeit erfasst, lückenlos überwacht, verständlich visualisiert und als Kennzahlen in Echtzeit aufbereitet werden. In Kombination mit KI-Systemen lassen sich große Datenmengen aktueller und historischer Daten verarbeiten und analysieren sowie Prognosen und konkrete Handlungsempfehlungen erstellen.

Digitale Zwillinge fungieren schließlich als virtuelles Abbild physischer Produktionssysteme und ermöglichen, die Simulation von Entscheidungsalternativen, die Identifikation von Schwachstellen und damit die Beschleunigung fundierter Entscheidungen und Reaktionen auf Störungen im Materialfluss.

Gleichzeitig kommen vermehrt Automatisierungslösungen, beispielsweise in Form von humanoiden Robotern, in Produktions- und Logistikprozessen zum Einsatz. Die Automatisierung und die digitale Transformation führen damit zu einer grundlegenden Veränderung logistischer Prozesse.
 


Wer ist Inga Pollmeier?

Inga Pollmeier hat eine Professur für Produktionsmanagement und Logistik an der Hochschule Ruhr West und ist zur digitalen und nachhaltigen Transformation von Produktions- und Logistikprozessen in Lehre, Forschung und Transfer aktiv. 


 

HDT-Journal: Inwieweit hat die Integration von datengetriebenen Simulationstools die klassische Wertstromanalyse und das Wertstromdesign verändert? 

Inga Pollmeier: Die Wertstrommethode ist eine bewährte Methode zur Erfassung und Analyse sämtlicher Informations- und Materialflüsse sowie zur Optimierung eines Wertstroms. Während die zunehmende Digitalisierung die Verfügbarkeit aktueller Daten verbessert, bleibt die klassische Wertstrommethode statischer Natur, da sie auf einer einmaligen Datenaufnahme basiert und somit lediglich eine Momentaufnahme des Wertstroms darstellt. 

Mit der Integration eines digitalen Zwillings findet eine Weiterentwicklung der Wertstrommethode statt, die beabsichtigt, die Dynamik und Variabilität der Produktionsprozesse in die Methodik zu integrieren. Der digitale Zwilling wird zur Modellierung und Darstellung einer ganzheitlichen Sicht auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen der Produktionsprozesse eingesetzt und verspricht anhand der Berücksichtigung vielfältiger (aktueller und historischer, digital erfasster) Daten eine bessere Analyse der Schwachstellen und Verbesserungspotenziale des Wertstroms. Erste Forschungsarbeiten und Softwarelösungen in diesem noch jungen Forschungsfeld zeigen vielversprechende Ergebnisse für die Anwendung in der Praxis. 

HDT-Journal: Kommen wir zum Schlagwort Lean Manufacturing und der Verschwendungsreduktion. Wie schätzen Sie das Potenzial der neuen Technologien ein, Effizienzen – auch zugunsten der Umwelt – zu steigern?

Inga Pollmeier: Die digitale Transformation der Logistik geht mit einer nachhaltigen Transformation einher, da Produkte und Prozesse mithilfe digitaler Technologien effizienter, ressourcenschonender und sozialer gestaltet werden können. Allein die Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft wird beispielsweise durch die Transparenz der Produkte und Materialien sowie die Vereinfachung der Rücknahmeprozesse durch die Nutzung digitaler Plattformen verbessert. Gleichzeitig helfen digitale Technologien, Daten bezüglich der ökologischen Nachhaltigkeit (z. B. hinsichtlich der (Treibhausgas-)Emissionen, der Abfallmengen oder der Verbrauchsmengen) zu erheben, verlässlich und objektiv zur Verfügung zu stellen, sie zu vergleichen und beispielsweise als Kennzahlen nutzbar zu machen. Verschwendungen werden damit sichtbar und eliminierbar.

HDT-Journal: Kanban, bekanntermaßen Ende der 1940er-Jahre in Japan ersonnen, ist bis heute ein elementares Tool für die Steuerung von Materialflüssen. Welche Vorteile und Herausforderungen ergeben sich durch die Implementierung elektronischer oder KI-gestützter Kanban-Systeme im Vergleich zu den klassischen physischen Lösungen?

Inga Pollmeier: Elektronische Kanban-Systeme sind als Erweiterung der klassischen Kanban-Methode zur Steuerung von Produktionsprozessen nach dem Pull-Prinzip bekannt und unterscheiden sich vor allem durch einen elektronisch gestützten Austausch der typischen Kanban-Signale. Dies erfordert das Anbringen von Transportern entweder direkt am Material oder an den jeweiligen Behältern, um die digitalen Kanban-Signale auszulösen.

Mithilfe der digitalen Informationen lassen sich die Materialflüsse nun systemseitig dokumentieren, auswerten und visualisieren sowie in Echtzeit überwachen und steuern. Damit kann die Prozessautomatisierung vorangetrieben, Bestände reduziert und damit die Effizienz der Materialflüsse weiter gesteigert werden. Neben den hohen Implementierungskosten stellen die Integration in bestehende IT-Systeme sowie der Aufbau einer robusten wie sicheren IT-Infrastruktur und die kontinuierliche Sicherstellung der Datenqualität wesentliche Herausforderungen dar. 

HDT-Journal: Blicken wir zum Schluss auf ein weiteres Trend-Thema: die Automatisierung und Robotik in Materialflüssen. Geht es nach Elon Musk, steht der Siegeszug autonom agierender Roboter quasi unmittelbar bevor. Werden diese zusammen mit fahrerlosen Transportsystemen traditionelle Materialflusssysteme problemlos ergänzen und dadurch effizienter machen oder müssen Prozesse eher ganz neu aufgesetzt werden?

Inga Pollmeier: Aufgrund der technologischen Entwicklungen können inzwischen fast alle intralogistischen Prozesse daraufhin überprüft werden, ob und wie sie sich von Maschinen unterstützen lassen oder inwieweit die Tätigkeit von Robotern übernommen beziehungsweise unterstützt werden kann. Dabei bieten vielfältige, standardisierte wie individuelle technologische Lösungen im Bereich innerbetrieblicher Transport, Lagerung, Kommissionierung und Fördertechnik zahlreiche Optimierungspotenziale, erfordern jedoch hohe Investitionen und können langfristig mit einer Einschränkung der Flexibilität einhergehen.

Gleichzeitig haben Automatisierungslösungen und der Einsatz humanoider Roboter beispielsweise auch das Potenzial, die Mitarbeitenden von arbeitsintensiven, physisch anspruchsvollen und repetitiven Aufgaben mit vorwiegend manuellen Tätigkeiten zu entlasten und so zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und damit zur Gestaltung altersgerecht attraktiver Arbeitsplätze beizutragen.

HDT-Journal: Frau Prof. Pollmeier, wir danken Ihnen ganz herzlich für die ausführlichen Erläuterungen.

Die Fragen stellte Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal 

Bildhinweis:
Unser Titelbild entstand unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz.

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