Kaum eine Stadt in Deutschland steht so sinnbildlich für den industriellen Wandel und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Umwälzungen wie Essen. Wer nicht an Zufälle glaubt, trifft, was den kausalen Zusammenhang mit der Eröffnung des Hauses der Technik (HDT) in der Ruhrmetropole vor knapp 100 Jahren betrifft, im doppelten Wortsinn ins Schwarze.
Schwarzes Gold allein nämlich würde für die künftige Prosperität nicht ausreichen, erkannte Heinrich Reisner kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Früher als jedem anderen war dem späteren ersten Leiter des HDT die Bedeutung der interdisziplinären Vernetzung und des schnellen Wissensaustausches für die Sicherung von Fortschritt und Wohlstand bewusst.
Thinking outside the box: Eine Essener Erfindung?
Das auf Heinrich Reisners Initiative hin gegründete älteste technische Weiterbildungsinstitut Deutschlands sollte genau hierauf einzahlen. Ob Montanindustrie, Energietechnik, Elektrotechnik, Ingenieurwesen oder Chemie – der Hydrologe und Wissenschaftsredakteur Heinrich Reisner brachte vom 21. November 1927 an alle an einen Tisch beziehungsweise in einen Hörsaal, um bahnbrechenden Ideen zum Durchbruch und neuen Technologien zur Anwendung zu verhelfen.
Schon am Titel der ersten jemals beim HDT gehaltenen Vorlesung – „Ingenieur, Chemiker und Kaufmann Hand in Hand“ – wird erkennbar: Jeder, der vom Blick über den Tellerrand („Thinking outside the box“) spricht, müsste sich eigentlich innerlich vor Reisner und seinen Mitstreitern verneigen.
Kohle ist Silber, Wissen ist Gold
Ob explizit formuliert oder zwischen den Zeilen angedeutet – fast keine politische Sonntagsrede entbehrt heutzutage eines Hinweises auf die für ein relativ rohstoffarmes Land so entscheidende Rolle von Know-how und Kreativität. Das perpetuiert ebenfalls im Grunde den Gedanken Reisners.
Mithin ist die weitere Entwicklung Essens und des Ruhrgebiets – vom Kohlenpott zum Ort der Energiewende und des Wissens – untrennbar mit dem HDT verwoben. Blicken wir einmal auf die Anfangsbedingungen zurück:
Ohne die Kumpel von der Ruhr lief nichts
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte Essen zur industriellen Herzkammer des Deutschen Reiches. Die Einwohnerzahl wuchs mit dem Aufstieg von Bergbau und Stahlproduktion rasant. Lag sie um die Jahrhundertwende noch bei rund 100.000, verfünffachte sie sich bis in die 1920er-Jahre nahezu. Stadtlandschaft und Selbstverständnis der Einwohner wurden insbesondere durch die Krupp-Werke geprägt, gleichzeitig „malochten“ Zehntausende als Kumpel unter Tage, um jenen Rohstoff zu fördern, ohne den der Ofen nicht nur hier im wahrsten Sinne rasch ausgegangen wäre.
Wie unverzichtbar die Steinkohle aus dem Ruhrgebiet für ganz Deutschland war, zeigte sich am deutlichsten nach den beiden Weltkriegen. Die Zechentürme zwischen Emscher und Ruhr bildeten den Motor der deutschen Energieversorgung, die endlos über die Förderbänder laufende Kohle wurde zum Fundament des Wiederaufbaus – besonders in den Wirtschaftswunderjahren.
Strukturwandel und Informationszeitalter
Essen war zu dieser Zeit jedoch längst mehr als ein Ort des Kohleabbaus und der Stahlerzeugung. Die Stadt, die nach dem 9. Jahrhundert aus einem Stift entstanden war und Spuren menschlicher Aktivität aufweist, die mindestens 250.000 Jahre alt sind, hatte sich früh zum wichtigen Handelszentrum für Energie entwickelt. Man denke etwa an die RWE AG. 1898 als Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG in Essen gegründet, ist sie heute einer der vier großen Energieversorger des Landes, von denen überdies die E.ON SE ihren Sitz in Essen hat.
Bereits in den 1950er-Jahren zeichnete sich die Endlichkeit der Ära der Kohleförderung ab. Neue Energiequellen verdrängten zunehmend die Kohle. Zudem machte der internationale Wettbewerb den Abbau im Ruhrgebiet unwirtschaftlich. Es kam zu ersten Zechenschließungen und es begann ein jahrzehntelanger, schmerzvoller Strukturwandel in Richtung Handel, Dienstleistung, Bildung, Forschung und Informationstechnologie.
UNESCO-Welterbe und Energiehauptstadt Europas
Auch architektonisch ist der Wandel in Essen sichtbar: Das UNESCO-Welterbe Zollverein, einst die größte und modernste Steinkohlenzeche der Welt, ist mittlerweile Kulturstandort und Symbol für die kreative Umnutzung der industriellen Vergangenheit. Das erhaltene Doppelbock-Fördergerüst ist so etwas wie der Eiffelturm des Ruhrgebiets. Die Silhouette ziert Firmenlogos und Souvenirs aller Art.
Die Region hat gelernt, ihre Geschichte als Asset zu nutzen und Essen steht exemplarisch für den Weg des Ruhrgebiets von der Wiege der Schwerindustrie zum Zentrum für Innovation. Während außerdem die Kumpel lange schon nicht mehr in den Stollen fahren, schlägt das Herz von Deutschlands Energiewirtschaft weiterhin in Essen. Bloß tut es das inzwischen leiser, smarter und nachhaltiger. Dass mit Recht von der „Energiehauptstadt Europas“ gesprochen werden darf, beweist nicht zuletzt die vor vier Jahren erfolgte Einrichtung des ersten europäischen Wasserstoff-Hubs.
Autor: Michael Graef, Chefredakteur HDT-Journal, 15.10.2025
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Unser Titelbild entstand unter Zuhilfenahme von künstlicher Intelligenz.